Gespräch mit Dr. med. Frauke Ishorst-Witte (Leiterin Gesundheitsamt Wandsbek), zuvor langjährig als Ärztin im Tagesaufenthalt für Wohnungslose in der Bundesstraße tätig.

Wichernbrief (wb)*): Wann ist man alt, wenn man auf der Straße lebt?

Dr. Frauke Ishorst Witte (IW): Menschen, die auf der Straße leben, sind psychisch und körperlich früher alt als die Behausten.

Wb: Die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Straße lebender Menschen liegt heute bei 49,3 Jahren.

IW: Als ich meine Untersuchung begann, lag der ermittelte Sterbezeitpunkt noch bei 44,5 Jahren, aber immer noch sind das gleichwohl über 30 Jahre weniger als die Lebenserwartung der übrigen Stadtbevölkerung.

wb: Welches sind die Hauptfaktoren für das vorzeitige Altern obdach- und wohnungsloser Menschen?

IW: Sie sind der Witterung extrem ausgesetzt, haben erhebliche Suchtprobleme, fast 99% der länger auf der Straße Lebenden sind sehr starke Raucher. Viele sind alkoholkrank und dazu kommt ein fehlendes Bewusstsein über gesundes Leben und eine zum Überleben in rauen Verhältnissen nötige Härte gegen sich selbst. Auf die Frage nach dem Befinden sagen die meisten zunächst immer, es gehe ihnen gut.

Wb: Woran sterben Obdachlose am häufigsten?

IW: Ganz überwiegend an ganz banalen Sachen, wie einer Erkältung, die zur eitrigen Bronchitis wird. Aber diese wird dann deshalb so gefährlich, weil der gesamte körperliche Zustand sehr schlecht ist, durch langjährig unbehandelte, unerkannte oder verdrängte schwere Erkrankungen wie Diabetes, Krebs oder eben die Sucht. Banale Erkrankungen führen dann zum Tod.

Wb: Haben alte obdachlose Menschen andere pflegerischen und medizinischen Bedarfe als alle anderen Senioren?

IW: Eigentlich nicht, ein Verbandswechsel ist für jeden Patienten gleich – aber die Umstände, unter denen das geschieht, sind eben belastend. Es ist auch für die Pflegenden unwürdig, kaum einen geschützten Raum für die medizinischen Vorgänge bieten zu können. Z. B. ist es für die medizinisch Pflegenden, eine Zumutung, im Regen vor einem Patienten auf der Straße zu knien. Deshalb bemühen wir uns, dass die Menschen in die Schwerpunktpraxen für Obdachlose kommen. Auch laufen werden mit mobilen medizinischen Angeboten regelmäßig Tagesaufenthalte und andere Einrichtungen angelaufen. So gibt es wenigstens etwas Privatheit.

Wb: Was müsste aus medizinischer Sicht passieren, damit der beschleunigte Altersprozess unterbrochen werden kann?

IW: Das Bewusstsein für ein gesünderes Leben müsste geweckt werden. Die Menschen sollten ermutigt werden, an ihre eigenen Ressourcen und vorhandenen Stärken zu glauben und besser für sich zu sorgen.

Wb: Wäre ein Pflegeangebot für auf der Straße lebende Menschen, neben der schon existierenden medizinischen Versorgung, sinnvoll? Oder gibt es bereits Ansätze hierzu?

IB: Es gibt schon sehr viele sehr gute Ansätze und Angebote. Aber sie sind untereinander jämmerlich schlecht vernetzt. Man muss nicht alles wieder und wieder erfinden, sondern besser koordinieren. Darin liegt das größte Potenzial der Entlastung für die sehr idealistischen und engagierten haupt- und ehrenamtlich Engagierten. Dazu muss allerdings die politische Willensbildung beitragen.

*) Die Fragen stellte Dr. Eva Lindemann, hoffnungsorte hamburg.